Montag, 19. September 2016

Ein Gedicht von Rilke


Ein Herbsttag am Zürich-See in der Schweiz.
Foto: Roland zh / Wikimedia Commons




Heute stelle ich ein Gedicht vor.
Es heißt "Herbst·tag".

In dem Gedicht spricht jemand mit Gott. 
Er sagt :

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Also: 
Herr, der Sommer war großartig.
Jetzt ist die Zeit für etwas Neues gekommen.

Eine Sonnen·uhr (die Sonnenuhr, -en) in der Stadt Darmstadt. Sie hat einen Zeiger.
Wenn die Sonne scheint, zeigt der Schatten (der Schatten, -) von dem Zeiger die
Zeit an. Aber wenn die ganze Uhr im Schatten ist, kann sie die Zeit nicht mehr an-
zeigen.                                                    
Foto: Martin Kraft / Wikimedia Commons

Lege Schatten auf die Sonnenuhren,
und laß den Wind auf den Feldern los.

Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren laß die Winde los.
die Flur, -en = Felder, Wiesen / Land außerhalb der Stadt.
loslassen, ließ los, losgelassen = gehen lassen/nicht mehr halten

Eine Wein·traube (die Weintraube, - n).
Sie ist voll mit Saft.

Foto: Karl Gruber / Wikimedia Commons


Sag zu den letzten Früchten: Werdet voll!
Gib ihnen noch zwei Tage gutes Wetter.
Dränge sie, damit sie fertig werden
und schicke süßen Geschmack in den Wein! 

drängen = jemandem sagen, dass er etwas unbedingt tun soll.
Wein, -e = Alkohol aus Weintrauben
Das waren die ersten zwei Strophen von dem Gedicht.
Sie sind gar nicht sehr bekannt.

die Strophe, -n [sprich: Strofe]= ein Teil von einem Gedicht 
oder von einem Lied. Eine Strophe hat mehrere Zeilen

Aber die letzte Strophe kennt fast jeder.
Sie beginnt so:
 
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Also:
Wer jetzt noch kein Haus hat, 
der wird sich auch keines mehr bauen.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.

Wer jetzt alleine ist, der wird lange Zeit alleine bleiben.

Er wird wach sein und lesen, 
und lange Briefe schreiben,
und in den Straßen unruhig hin- und hergehen, 
wenn die Blätter im Wind treiben.
unruhig = ohne Ruhe/ nervös 
treiben, trieb, getrieben = sich mit dem Wind oder mit dem Wasser bewegen.  
Eine Allee (die Allee, -n): Eine Straße mit Bäumen auf beiden Seiten. Es ist Herbst.
Viele Blätter (das Bl
tt,  ̈-er) sind von den Bäumen auf die Straße gefallen.
Maler: Bruno Moras (1883-1939)  Foto: Lotissimo / Wikimedia Commons


Herbsttag
Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
(Rainer Maria Rilke, 1902)

befehlen, befahl, befohlen = (von oben nach unten) sagen, 
was jemand tun soll oder was er nicht tun darf.
südlich = (hier) so warm und sonnig, als ob es im Süden ist.

vollnden = ganz fertig machen, perfekt machen
die Vollndung (meistens Singular, Substantiv von vollenden)
jagen = (hier) schnell tun.


Hier kann man das Gedicht hören:
https://www.youtube.com/watch?v=x-MwVjggIcE 
Der Sprecher ist  Fritz Stavenhagen.

Rainer Maria Rlke (1875 - 1926)
Foto: Wikimedia Commons






Rainer Maria Rilke und Gott


Dieses Gedicht habe ich in der Schule kennengelernt.
Damals hat mich schon der erste Satz umgehauen.
Da sagt jemand zu Gott: "es ist Zeit".

"Es ist Zeit" ist eine Aufforderung.
Sie bedeutet
 "Du sollst anfangen" oder "Du sollst etwas Neues tun".

Zum Beispiel:  
Du sollst das Frühstück beenden und zur Schule gehen.
(....sonst kommst Du zu spät zur Schule.)
oder 
Du sollst die Party verlassen und nach Hause gehen.
(....sonst bist Du morgen müde.) 

oder  
Du sollst den Koffer nehmen und zum Bahnhof gehen.
(....sonst verpasst Du den Zug.) 

"Es ist Zeit" sagt man nur zu guten Bekannten.
Zum Beispiel zu Kindern, 
oder zu Mitarbeitern, 
oder zum Ehemann.
Und eine Sekretärin sagt es vielleicht zu ihrem Chef.


Für Rilke war Gott ein sehr guter Bekannter.

Rilke kam aus einer katholischen Familie.
Als Erwachsener gab er die Religion auf,
aber seine Beziehung zu Gott behielt er.  
Rilke dachte ähnlich wie ein Mystiker
Gott lebt in mir.
Er ist ein Teil von mir.
Einmal hat er in einem Gedicht geschrieben:
"Was wirst Du tun, Gott, wenn ich sterbe?" 
Rilke war nicht religiös.
Aber er hat ständig mit Gott gesprochen.
Das merkt man in vielen von seinen Gedichten. 



Wortliste
jemanden mhauen, haute um, mgehauen = (eigentlich:) einen Baum fällen / (hier:) jemanden so überraschen, dass er nichts mehr sagen kann.
auffordern = jemandem sagen, dass er etwas tun soll. ("bitten" ist am schwächsten und freundlich, auffordern ist stärker und deutlicher, "befehlen" ist am stärksten und nicht freundlich.)
die Aufforderung, -en = Substantiv von "auffordern".
verpssen = zu spät kommen und deswegen etwas nicht sehen, hören oder tun können. 
der Beknnte, -n = (hier:) jemand, den man kennt. 
katholisch =  so, dass man Mitglied von der katholischen christlichen Kirche ist.
aufgeben, gab auf, aufgegeben = nicht mehr tun/ (hier:) nicht mehr an diese Religion glauben.
die Beziehung, -en = (hier:) die Freundschaft, das gute Verhältnis .
der Mystiker, - (sprich: Müstiker]Mensch. Er ist sehr religiös. Er fühlt Gott in sich selbst und spricht persönlich mit Gott.
religiös = so, dass man an Gott glaubt oder dass man Religion sehr wichtig findet.
ständig = immer, die ganze Zeit. 

 

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